Über mich
In eigener Sache
Philosophisches
...Ich glaube, dass die künstlerische Entscheidungsfähigkeit nicht notwendigerweise an Bezugspunkte geknüpft sein muss, ohne dass man im gleichen Moment einer postmodernen Gleichgültigkeitsästhetik bezichtigt werden braucht. Dazu möchte ich den Kerngedanken der so genannten "Koan" des Zen-Buddhismus anführen. Ein "Koan" ist, vereinfacht formuliert, eine lehrsatzartige Problemstellung, die auf Grund ihrer immanenten Widersprüchlichkeit rational nicht fassbar ist. Nur eine umfassende Auseinandersetzung damit kann schließlich zu einer Transzendierung führen, die jenseits dieses Widerspruchs liegt, aber nur individuell erfahrbar ist und sich jeglicher Verbalisierung entzieht. Vergleichbar damit wäre auch ein künstlerischer Entscheidungsprozess, fern von allen traditionellen dialektischen Prozessen, aber selbstverständlich auch fern von postmodernen Auflösungserscheinungen jeglicher Art.
In meinen Augen lässt sich dadurch eine neue Art von künstlerischer Entscheidungsfreiheit gewinnen, die weder unverantwortlich noch durch eine immanente Befangenheit geprägt wäre. Eine Aussage Mallarmés scheint mir an dieser Stelle besonders treffend:
"Ich habe mein Werk nur durch Eliminierung geschaffen, und jede Wahrheit, die ich erworben habe, ist aus dem Verlust einer Impression hervorgegangen, die sich in ihrem Aufblitzen verzehrt hatte, und mir auf Grund der Dunkelheit, die sie frei werden ließ, erlaubt, tiefer in das Empfinden der absoluten Dunkelheit einzudringen" (Stephane Mallarmé, zitiert nach Maurice Blanchot: Der Gesang der Sirenen, Berlin 1982, Seite 82).
Auch dieses Zitat - aus einer Zeit, die wohl kaum postmodernen Gedankenguts bezichtigt werden kann – impliziert meines Erachtens das Fehlen von so genannten archimedischen Punkten, ohne dabei die Orientierung zu verlieren oder, mit den Worten Harry Lehmanns, einer "totalen Subjektivität" zu verfallen....
(Dieter Mack)
Ausschnitt aus dem Artikel: Vom
Sinn der Toleranz - Einige Gedanken zu Bewusstseinsstrategien im
Zusammenhang mit aktuellem Komponieren und Thesen von Harry Lehmann, erschienen in KunstMusik Bd. 6, Hrsg. von Maria de Alvear & Raoul Mörchen, Köln 2006. Oder in leicht bearbeiteter Form in: Dieter Mack: Zwischen den Kulturen, Hildesheim 2022, Seite 438 ff.
In eigener Sache 2
Interkulturelles und Sinnliches
„In eigener Sache I“ hat ganz bewusst eher lebensphilosophische Punkte meines Denkens angesprochen und vielleicht zum Lesen des gesamten Beitrags angeregt. Hier erlaube ich mir, einige konkretere Worte über mich selbst zu formulieren, einen Komponisten, der seit 30 Jahren balinesische Gamelanmusik spielt, ca. neun Jahre seines Lebens in Indonesien verbracht hat und auch noch gerne kocht.
Interkulturelle Ästhetik - Synthese oder Antithese und die Bedeutung des Sinnlichen
Für mich ist die Frage, welche Rolle westliches und indonesisches Gedankengut in meiner Musik spielen, weder eine Frage von Synthese noch von Antithese. Die eigene musikalische Sprache kann nur das kumulative Ergebnis einer umfassenden Transformation sämtlicher Erfahrungen sein, die man zu jedem bestimmten Zeitpunkt im Leben in sich trägt. Ich nenne dies den Prozess der Suche nach der eigenen Kultur. Was dabei gesucht wird, ist etwas Authentisches, das die vermeintliche Dichotomie zwischen Synthese und Antithese transzendiert.
Balinesische Musikpraxis oder besser, das Leben in der balinesischen Gesellschaft haben mich beeinflusst. Aber ebenso geschah dies durch Bigband Jazz, freie Improvisation, mein Leben im südwestdeutschen Umfeld und meine Aufenthalte in Südindien oder Japan. Und wie kann dies alles neben meiner Liebe zur Musik von Maurice Ravel und Igor Strawinsky existieren, nicht zu vergessen die Musik von Perotin, Guillaume de Machault, Mozart, Messiaen und Frank Zappa, um nur die wichtigsten zu nennen?
Zeitliche und räumliche Dimensionen sind offenbar nicht mehr deutlich getrennt. Sie arbeiten beide auf unterschiedliche Art und Weise zusammen. In dieser ästhetischen Vielfalt ist es meine Aufgabe, eine authentische künstlerische Position zu finden. Die mitteleuropäische Kultur hat das Zeitliche, die historische Verbindlichkeit lange Zeit zu einseitig in den Vordergrund gestellt. Ich erinnere nur an Adornos Diktum:
...Die Regeln sind nicht willkürlich ausgedacht. Sie sind Konfigurationen des geschichtlichen Zwanges im Material (Theodor W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik, Frankfurt 1958, Seite 61).
Das hatte ich verstanden, aber es hat mich nie befriedigt. Die Bedeutung des Räumlichen, vom direkten sozio-kulturellen Umfeld bis hin zu anderen Kulturen war für mich immer von ähnlicher Wichtigkeit.
An dieser Stelle erklärt sich auch mein Interesse an, auf den ersten Blick so profanen Sache wie dem Kulinarischen. Ess- und Trinkkulturen sind für mich schon immer Signaturen des, im positiven Sinne Lokalen und des sinnlich Kommunikativen zugleich gewesen. Beides schafft Brücken im interkulturellen Kontakt. Beides ist ebenso geschichtlich gewachsener und authentischer Ausdruck einer Kultur. Die Leistungen eines Winzers, der mit der Natur zusammen, versucht, eine gemeinsame Identität, bzw. einen gemeinsamen Ausdruck zu finden, haben mich schon immer fasziniert. Das Gleiche gilt für Köche, die es schaffen, Natürlichkeit und sinnliche Magie miteinander zu verbinden. Deswegen ist Kochen auch mein erklärtes Hobby Nr. 1. Einen eigenen Weinberg kann ich mir leider nicht leisten, aber zumindest die Ergebnisse Anderer schätzen. Die kleine und sicherlich unvollständige Auswahl unter „links“ angeführten Winzer vertreten neben vielen Anderen in meinen Augen ein entsprechendes Konzept. Bei den Köchen werde ich sicher nie an erster Stelle den leider viel zu früh verstorbenen Alain Chapel vergessen, während in Deutschland Franz Keller jr., Karl-Josef Fuchs, Eckhart Witzigmann, Harald Wohlfahrt und zuletzt Roy Petermann mich entsprechend beeindruckt haben, um wieder nur Einige zu nennen. Erwähnt werden muss aber, wenn es um meine Quellen geht, I Gusti Gedé Raka (er starb 2002), das Familienoberhaupt derjenigen Familie in Saba/Bali, bei der ich seit 1978 immer gewohnt habe. Sein sensibler Umgang mit Gewürzen und sein Interesse am Kochen überhaupt - obwohl er eigentlich Tanz- und Musiklehrer bzw. eine Art Philosoph war - haben mich gleichermaßen bewegt.
Das sagt alles nicht direkt etwas über meine Musiksprache aus, aber etwas über das Lebensgefühl bzw. über die Verantwortlichkeit als Grundlage der eigenen kreativen Arbeit.
Der kreative Prozess gleicht somit, bei aller Sinnlichkeit, einer Art Exegese im Sinne von Helmut Lachenmanns Prinzip des „Komponierens als existentielle Erfahrung“. Auf diesem Hintergrund muss ein Komponieren als „global player“ nicht notwendigerweise eine bikulturelle oder multikulturelle Lebenserfahrung auf einer vordergründig materiellen Ebene widerspiegeln. Hier sehe ich meine Aufgabe, meinen Beitrag zur Weltkultur, indem ich der unendlichen Vielfalt der Welt der Musik ganz lapidar eine persönliche Nuance hinzufüge.
Postscriptum:
Sie werden vielleicht genauere kompositionstechnische Analysen vermissen. Ich habe sie absichtlich weggelassen, da sie zuviel Spezialwissen voraussetzen. Hierzu empfehle ich mein Beitrag in dem Band: Musik-Kulturen – Darmstädter Diskurse 2, hrsg. von Jörn Peter Hiekel, Saarbrücken 2008, Pfau-Verlag, bzw. Torsten Möller (Hrsg.): Wenn A ist, ist A – der Komponist Dieter Mack, Saarbrücken 2008, Pfau Verlag.
In eigener Sache 3
Leseprobe
Ausschnitt aus: Dieter Mack: Auf der Suche nach der eigenen Kultur – Komponieren im Spannungsfeld bi- oder multikultureller Erfahrungen, in: „Musik-Kulturen, Darmstädter Diskurse 2“, Texte der 43. Darmstädter Ferienkurse 2006, hrsg. von Jörn Peter Hiekel im Auftrag des IMD Darmstadt, Saarbrücken 2008, Pfau-Verlag
...In der mitteleuropäischen (deutschen?) Musikkritik und Musikwissenschaft hat man bi-oder multikulturelles Bewusstsein eher den ausländischen Komponistinnen und Komponisten als positives individuelles Merkmal zugestanden, vor allem dann, wenn es noch einen im weitesten Sinne „widerständigen“ bzw. konfliktuösen Beigeschmack hatte. Für mitteleuropäische Komponistinnen und Komponisten galt dies umgekehrt in der Regel nicht.
Es war deswegen unverständlich, dass auch ein Fachmann wie der, leider viel zu früh verstorbene Peter Niklas Wilson in einem früheren Grundsatzartikel namens Die Trommeln des Südens, (in: Die Zeit, Nr. 28/1992), nur Vinko Globokar, Young-Hi Pagh-Paan und Mauricio Kagel als ernstzunehmende Komponisten im interkulturellen Spannungsfeld anführte, weil sich bei ihnen die Gebrochenheit der Auseinandersetzung widerspiegele.
Kann nur eine Auseinandersetzung, die die Gebrochenheit des „Aufeinandertreffens“ von Kulturen impliziert, als künstlerisch authentisch bezeichnet werden? Ich glaube, dass man diese Frage nur anhand des jeweiligen Werks und nicht grundsätzlich entscheiden kann, denn das Aufeinandertreffen von Kulturen bzw. ihrer Vertreterinnen und Vertreter gehört zu den grundlegenden Gegebenheiten menschlicher Existenz.
Im Zusammenhang mit kulturellen Begegnungen und Auseinandersetzungen in Deutschland hat eine Art „a priori Schuldhaftigkeit“ mit einer schon fanatischen Ablehnung jeglicher kultureller Berührungen bzw. Beeinflussungen immer noch Konjunktur. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Nachvollziehbar ist dieses Denken allenfalls für Vertreterinnen und Vertreter der Nachkriegsgeneration, die den Rassismus des Naziregimes miterleben mussten und noch heute hinter jeder kulturellen Berührung die potentielle Gefahr einer Überfremdung oder imperialen Vereinnahmung sehen. Nachvollziehbar ist eine genuine kritische Haltung gegenüber globalisierenden Vereinheitlichungen als aktuelle Renaissance kolonialen Herrenmenschendenkens. Nicht nachvollziehbar ist jedoch jene naive Sehnsuchtshaltung, die lange Zeit auch die Ethnomusikologie prägte. Dabei postulierte man gleichsam „kulturelle Biotope“, wenn man von kultureller „Unberührtheit“ 1 sprach. Bereits 1978 wies Edward Said in seinem lesenswerten Buch „Orientalism“ auf dieses Phänomen hin, wenn er von „...Europe’s day-dream of the Orient...“2 redete und damit diesen, die weitaus komplexere Realität verkennenden Drang nach einer fiktiven Reinheit geißelte.
Hervorheben möchte ich an dieser Stelle jedoch den Fall des Werks "Exotica" von Mauricio Kagel, das immer wieder als Beispiel kritischer Auseinandersetzung mit anderen Kulturen herangezogen wird. Spielt man dieses Werk Vertretern jener Kulturen vor, woher die Instrumente stammen, dann empfinden diese Kagels Konzept als Beleidigung ihrer kulturellen Ausdrucksformen und keineswegs als künstlerisch wertvolle Auseinandersetzung!
Zusammenfassend ließe sich als Forderung formulieren, dass es an der Zeit ist, Begriffe wie Moderne, Neue Musik oder auch eingeschränkt den Terminus Avantgarde mit den Worten Rolf Elberfelds3 im pluralen Sinne neu zu denken. Es gibt keine einzige Moderne. Letztlich hat jede Kultur ihre eigene Moderne oder Avantgarde oder wie man es auch immer benennen möchte. Und in einem multi-ethnischen Land wie beispielsweise Indonesien wird man zusätzlich auf einer zweiten Ebene von mehreren intrakulturellen Modernen zu reden haben.
Diese Forderung steht im übrigen in keinem Zusammenhang mit der aktuellen Debatte bezüglich einer so genannten „zweiten“ oder „reflexiven Moderne“ wie sie von Harry Lehmann und Claus-Steffen Mahnkopf4 in Anlehnung an Ulrich Beck und Anthony Giddens5 propagiert wird. Wiewohl man mit vielen ihrer Kernideen sympathisieren könnte, erscheint mir die fast zwanghafte kategoriale Einordnung aktuellen künstlerischen Schaffens fragwürdig. Natürlich kann man sich eigene Koordinatensysteme schaffen. Es besteht jedoch die Gefahr, zu einem Zeitpunkt normativ zu verfahren, bei dem gerade die Infragestellung des Normativen im Vordergrund stehen sollte6. Historische Prozesse sollten besser erst aus einer zeitlichen Distanz heraus beurteilt werden.
1 Der häufig aplizierte Terminus der „kulturellen Reinheit“ wäre absurderweise jedoch genau der Terminus, der subkutan an rassistische Ideologien erinnert, gegen die genau jene Klientel glaubt, zu argumentieren.
2 Edward W. Said: „Orientalism“, New York 1978 (1979), Seite 52,
3 Rolf Elberfeld: Kitaro Nishida, Das Verstehen der Kulturen, Amsterdam 1999.
4 C.S. Mahnkopf: Kritische Theorie der Musik, Weilerswist 2006. und Harry Lehmann: Avantgarde heute, in:
Musik & Ästhetik, Heft 38, April 2006.
5 Ulrich Beck, Anthony Giddens & Scott Lash: Reflexive Modernization, Stanford 1994.
6 Die von Mahnkopf favorisierte Ästhetik des Dekonstruktivismus wird unter anderem als Zerschlagung des Normativen verstanden. Wenn man jedoch solche Prozesse selbst wieder gleichsam normativ definiert - ...Eine musikalische Dekonstruktion, die eine autonomistische Struktur zugleich wie im Erzeugen dekonstruiert, sei immanente Dekonstruktion genannt; und nur diese immanente ist der Auftrag an das 21. Jahrhundert (C.S. Mahnkopf: Kritische Theorie der Musik, Weilerswist 2006, Seite 104) – dann stellt sich für mich die Frage der Sinnfälligkeit solch einer Forderung.
IN EIGENER SACHE 4
Ein Leben zwischen zwei Stühlen
Erfahrungen als Musiker und Musikpädagoge in Indonesien[1]
Außereuropäische Tonsysteme, so lautete der Titel eines Seminars meines Kompositionslehrers Prof. Brian Ferneyhough im Jahre 1977 an der Musikhochschule Freiburg. Viel vorstellen konnte sich darunter niemand, und wie sich später herausstellte, Ferneyhough selbst auch nicht. Wir Studierende hatten damals andere Bezugspunkte. Die meisten[2] waren völlig an der mitteleuropäischen Tradition, salopp gesprochen der Linie Bach-Beethoven-Brahms-Schönberg-Stockhausen orientiert. Das soll durchaus heißen, dass man selbst im eigenen Kulturraum alles andere kaum gelten ließ (Strawinsky wurde gerade noch als Schönbergs gleichsam populistischer Opponent akzeptiert – Adorno liess grüßen!). Von Amerika kannte man allenfalls John Cage, schätzte ihn aber mehr als Ideologen anstatt als Komponisten. Einige wenige – und zu diesem speziellen Zeitpunkt, so weit ich mich erinnere, war ich sogar der Einzige – kamen aus dem Umfeld der experimentellen Rockmusik und dem Jazz. An der Musikhochschule Freiburg war dies zunächst keineswegs ein Vorteil; im Gegenteil, die Hypothek des ‚naiven Unwissenden‘ trug man mit sich, ob man wollte oder nicht.
Plötzlich tauchte also das Thema Außereuropäische Tonsysteme auf, und das war für die Anhänger beider Ausrichtungen gleichermaßen neu wie fremd. Warum Ferneyhough dieses Thema gewählt hatte (ohne bis heute selbst im entferntesten mit irgendeiner anderen Musikkultur in Verbindung zu stehen), warum ausgerechnet mir das Thema Balinesische Gamelanmusik zugeteilt wurde, das gehört wohl zu jenen Zufällen, die unter bestimmten Umständen ein Leben grundsätzlich beeinflussen können. Zumindest geschah es bei mir, und soweit ich mich erinnere, wiederum als Einzigem aller damals involvierten Studierenden. Ob also doch der Hintergrund Rockmusik/Jazz eine Rolle gespielt hatte?
Wenn ich heute aus der Distanz darüber nachdenke, so glaube ich tatsächlich, dass ein Zusammenhang existiert hatte, wenn auch kein direkt musikalischer. Der wesentliche Vorteil meines persönlichen musikkulturellen Hintergrunds war genau das, was mir zunächst das Studium an einer traditionellen, kultur-, beziehungsweise geschichtsbewussten Hochschule das Leben schwer gemacht hatte. Im Gegensatz zu meinen Kollegen verspürte ich keineswegs die historische Last meiner Kulturtradition. Ich beschäftigte mich gerne damit, ohne allerdings dem latent überzogenen Intellektualismus zu verfallen, dass man die gedankliche Durchdringung der Musik über das im weitesten Sinne affektive Musikerleben oder den musikalischen Ausdruck stellt. Ich konnte (und kann in gewisser Hinsicht bis heute) nicht verstehen, dass – überspitzt formuliert – Neue Musik besonders dann gültig sein solle, wenn nur der theoretisch-ideologische Überbau stimme, dagegen das Erklingende gleichsam zweitrangig sei. Phänomenologisches, ja vielleicht sogar Spirituelles im weitesten Sinne hatten mich schon immer mehr interessiert. Alles, was ich nicht verstand, das mich aber vielleicht gerade deswegen in seinen Bann zog, war und ist mir wichtiger als alle noch so klugen Konzepte, Theorien oder Begründungen. Von einem ‚magischen‘, sich der rationalen Durchdringung entziehenden Moment zu reden, scheint mir deshalb nicht unzutreffend.
Auf der anderen Seite zähle ich mich keineswegs zu abgehobenen New Age-Traumtänzern, romantischen Phantasten oder auch esoterischen Grüblern; im Gegenteil, ein handfester Bezug zur Realität stand für mich nie im Widerspruch zu jenem tendenziell spirituell-phänomenologischen Ansatz. Zumindest von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, war ich für eine andere Musikkultur wahrscheinlich offener oder aufgeschlossener. So sehe ich es jedenfalls heute aus einer angemessenen zeitlichen Distanz.
Ein letzter Aspekt war wahrscheinlich meine Isolierung an der Musikhochschule und die greifbare Möglichkeit, plötzlich etwas für mich zu ‚besitzen‘, was Andere nicht hatten, denn im Bereich meiner eigenen Kultur fühlte ich mich während meines Studiums letztlich immer ‚hinterher laufend‘. Zwar gelang es, das von mir Erwartete problemlos aufzuarbeiten und auch ein entsprechendes Bewusstsein dafür aufzubauen (sonst wäre ich wohl kaum zu meinem späteren Beruf gekommen), doch meinen ideologischen Stempel hatte ich in meinem damaligen kulturellen Umfeld unabänderlich bekommen. Nichts ist bekanntlich schwerer, als vorhandene Vorurteile abzubauen, selbst wenn man schon zehn Schritte weiter ist.[3]
Die Vorbereitung und Durchführung meines Referats über balinesische Gamelanmusik war mehr als unbefriedigend. Zwar bekam ich ungewöhnliche Unterstützung durch das damals führende europäische Institut bezüglich Bali, das musikwissenschaftliche Seminar der Universität Basel (damals unter der Leitung von Prof. Dr. Hans Oesch), ich hörte sogar durch Zufall ein Konzert des Gamelan Semar Pegulingan aus Teges[4]. Aber all dies änderte nichts an der nebulös-schwammigen Unsicherheit oder Fremdheit der neuen Materie gegenüber.
Warum ich mich schließlich entschied, nach Bali zu fliegen, weiß ich selbst nicht mehr. Die ironischen Bemerkungen von Dr. Danker Schaareman[5] (dem damaligen Assistenten von Prof. Dr. Oesch), der mir gegenüber gerne von den ‚typischen Theoretikern‘ sprach, taten wahrscheinlich das ihre. Und so geschah es, dass ich 1978 im Sommer nach Bali flog, unter anderem im Glauben – viele Bücher hatte ich ja gelesen – gut vorbereitet zu sein, schon viel zu wissen; und mit der Sprache würde es sicher ebenso gut funktionieren.
Durch verschiedene Kontaktadressen kam ich relativ schnell in das Dorf Saba, etwa anderthalb Kilometer vom Meer entfernt, wenn man in Richtung Gianyar/Südbali fährt und in Blahbatuh rechts abbiegt. Im ersten Moment war ich von der neuen Atmosphäre sehr angetan. Die Natur atmete, pulsierte, und die Menschen erschienen mir äußerst freundlich und hilfsbereit. Ich empfand auch die Tatsache, dass es damals nur einen üblen Feldweg zu diesem Dorf gab, weder Strom noch Telefon existierten, als wohltuenden ‚Urlaub von der westlichen Zivilisation‘. Obwohl Saba schon mehrere Male von Westlern besucht worden war[6] und das Gamelanorchester im Jahre 1976 in Deutschland weilte[7], kam ich mir von Beginn an als Exot vor – also einmal umgekehrt!
Sehr schnell stellte sich jedoch heraus, dass mein Buchwissen Makulatur blieb, dass die Unkenntnis der Sprache ein immenses Hindernis darstellte[8] und ein individualistisch erzogener Mensch (allerdings aus kleinbürgerlichem deutschem Umfeld) keineswegs gleichsam von selbst ‚integrierbar‘ war. Wie sollte man sich denn verhalten, wenn aus purer, natürlicher Neugierde ohne Unterlass mindestens zehn kleine Buben um einen herumsitzen und unentwegt an den Körperhaaren zupfen oder zumindest einmal diese merkwürdige weiße Haut berühren wollten? Zumindest war mir klar, dass agressives Wegscheuchen sicher der falscheste Weg gewesen wäre, wiewohl mir diese Erkenntnis persönlich wenig weiterhalf. Mit der neuen Nahrung hatte ich noch die wenigsten Probleme. Das Schlimmste aber waren die Nächte. Man hatte mich, aus welchen Gründen auch immer, in einem offenen pondok[9] inmitten eines dem Gehöft angegliederten Fischteichs untergebracht, einige Tücher provisorisch an den offenen Seiten aufgehängt (die mein pembantu[10] immer fröhlich morgens gegen 5 Uhr aufrollte – was für eine Zeit, kann der mich nicht einmal in Ruhe lassen?).
Heute würde ich dafür bezahlen, in solch einem pondok übernachten zu können, damals aber brachte mich die kontinuierliche Geräuschkulisse aus Wind, Wasser, Kleingetier und allem anderen schier zur Verzweiflung. Noch entscheidender war wahrscheinlich die Tatsache, dass ich niemanden hatte, mit dem ich über all diese neuen Eindrücke kommunizieren konnte. Ich war gezwungen, alles mit mir selbst austragen, und das war ich nicht einmal in Ansätzen gewohnt. ‚Höhepunkt‘ dieser ganzen Affäre war, als ich nach dem soundsovielten Alptraum eines Nachts schreiend durch die Gegend rannte, alles aufgeben und schnellstmöglich den Rückflug antreten wollte.
Nun sollte man annehmen, dass die Balinesen selbst froh gewesen wären, wenn dieser ‚merkwürdige Vogel‘ sie schnellstmöglich verlassen hätte (vielleicht war es auch so, wer weiss). Tatsächlich aber geschah nahezu das Umgekehrte, also eine unmerkliche Betreuung und Unterstützung, bis ich diese psychische Krise überwunden hatte – und dann doch noch einige Wochen blieb.
Jahre später, als ich schon gleichsam zur Familie gehörte (was man zum Beispiel daraus entnehmen konnte, dass mir das Essen nicht mehr speziell serviert wurde, sondern ich einfach wie alle anderen in die Küche ging und mir das holte, was gerade vorhanden war) kam bei einer der langen abendlichen Diskussionen mit dem Familienoberhaupt I Gusti Gêdé Raka und seinen älteren Söhnen das Gespräch auf diesen Vorfall. Dabei äußerte ich meine anerkennende Verwunderung über das damalige Verhalten[11], erlaubte mir aber doch zu fragen, wieso man sich so verhalten hatte. Die Antwort war so einfach wie typisch balinesisch: Dieses pondok, das man mir als Wohnraum zur Verfügung gestellt hatte, galt im Dorf als Ort der schwarzen Magie, und man ging davon aus, dass ich als Westler dagegen immun sei. Umso größer war die ‚Freude‘, dass ich ebenso (jedenfalls in den Augen der Balinesen) auf die Einflüsse der schwarzen Magie entsprechend reagierte. Man war also gar nicht verwundert. Im Gegenteil, dieser Vorfall war geradezu von Vorteil dafür, besser akzeptiert zu werden.
Ich habe dieses Beispiel deswegen so ausführlich geschildert, weil es mich wie kaum etwas anderes entscheidend beeinflusst hat. Erst dadurch begann ich zu lernen, was eine eigene Identität bedeutet; erst dadurch begann ich, mein bisheriges westliches Leben als eine unbewusste Konditionierung in meinem sehr beschränkten Umfeld zu sehen. Erst jetzt begann mir klar zu werden, dass unsere moderne Kulturentwicklung nicht nur horizonterweiternd ist, sondern im Gegenteil, dass die – damals schon spürbare – scheinbar globale Verfügbarkeit durch die Medien, Bücher etc. einer Scheinwelt von Wissen Vorschub leistet. Plötzlich wurde ich mir meiner Begrenztheit bewusst, und diese Erfahrung sehe ich bis heute als etwas äußerst Positives.
Auch als Komponist drehte sich alles gleichsam um 180°. Von der experimentellen Rock/Jazzmusik her kommend (was ich in den folgenden Jahren nach der ersten Balierfahrung mit voller Überzeugung vertrat – siehe den Beginn dieses Essays), war ich zunächst im Bereich der elektronischen Musik tätig und sah darin auch meine berufliche Zukunft. Die balinesische Lebenserfahrung aber bewirkte, dass ich mich zunehmend von dem elektronischen Umfeld abkapselte. Kompositorisch geschah das sofort, als Interpret bin ich noch bis heute, aber nur mit analoger Live-Elektronik, gelegentlich tätig.
Ich konnte plötzlich Musik nicht mehr von menschlicher Kommunikation und einer bestimmten Art der Körperlichkeit trennen, und dazu schien mir die Welt der elektronischen Musik im Gegensatz zu stehen. Es war wohl anfänglich weniger die Gamelanmusik selbst, die mich zu dieser Umorientierung bewegte, als vielmehr die zwischenmenschliche Lebenserfahrung, die mich so tiefgehend beeindruckt hatte und mich bis heute nicht loslässt. Die eigentliche praktische Erfahrung mit Gamelanmusik begann streng genommen erst beim vierten Aufenthalt im Jahre 1981/82, als ich ein ganzes Jahr auf Bali (meist in Saba) lebte. Die musikalische Praxis bestätigte nur, was mir zuvor als wesentliche Erfahrung in allgemeiner Hinsicht bewusst geworden war.
Damals und insbesondere nach dem Jahresaufenthalt wurde ich oft gefragt, ob die Rückkehr nach Deutschland nicht ein Kulturschock für mich gewesen sei. Sieht man einmal von der ersten Rückkehr im Jahre 1978 ab, als ich einige Monate Schwierigkeiten hatte (aber eher aus gesundheitlichen Gründen, beziehungsweise wegen der Verarbeitung dessen, was ich erlebt hatte), so stand die Rückkehr nach dem Jahresaufenthalt unter umgekehrten Vorzeichen, nämlich dem unbändigen Willen, diese Lebenserfahrungen, die mir bei uns verloren zu gehen schienen, unter unseren Bedingungen den Menschen wieder zu vermitteln. Dieser Wille hat mich wahrscheinlich zu einem überzeugten Pädagogen gemacht. Eine Trennung von kreativer und pädagogischer Arbeit kann ich mir bis heute nicht vorstellen.
Zwei weitere Erlebnisse sind in diesem Zusammenhang erwähnenswert. Das erste Beispiel hatte Auswirkungen auf die Betrachtung meines eigenen europäischen kulturellen Umfeldes, während das zweite in engem Zusammenhang mit meiner pädagogischen Tätigkeit der letzten Jahre in Indonesien steht.
Während meines einjährigen Studienaufenthaltes auf Bali war es eine Selbstverständlichkeit, mich so umfassend wie möglich als ‚Mitbewohner‘ zu verhalten, und so nahm ich an den meisten Vorbereitungen für Rituale, Feste oder auch an Sitzungen teil. Bei einem dieser Rituale, einem sogenannten Odalan (eine Art Tempelgeburtstag) fragte mich der verantwortliche Priester, wieso ich eigentlich als orang Kristen in einem balinesischen Tempel während eines balinesischen Rituals ebenso beten kann?[12] Als ich noch nach einer passenden Antwort suchte, hatte er selbst sie schon gefunden: „Ach, was rede ich eigentlich, wenn es etwas Göttliches gibt, dann ist es sowieso für alle dasselbe!“ Diese Antwort beeindruckte mich zutiefst, und ich kann mich nicht erinnern, jemals eine ähnliche Bemerkung in unserem Kulturkreis von Priestern gehört zu haben.
Das zweite Beispiel bezieht sich auf den Lernprozess des balinesischen Gamelan. Während ich bei den ersten kurzen Aufenthalten meist mit I Gusti Gêdé Raka[13] einige einfache pokok gending (Kernmelodien, einem cantus firmus in unserer Musik annähernd vergleichbar) durch Vormachen und Nachmachen lernte, begann ich den intensiven, fast täglichen Unterricht während des Jahresaufenthaltes mit I Nyoman Kumpul aus dem Nachbardorf Pinda. Das Gamelan Gong Kebyar aus Pinda gilt bis heute als eines der führenden Orchester dieses dynamisch-virtuosen Stils. Warum dies so ist, insbesondere angesichts der kulturellen Bedeutung des wesentlich reicheren Dorfs Saba, habe ich an anderer Stelle ausgeführt.[14]
Nyoman Kumpul[15], ein einfacher Reisbauer aber hervorragender Musiker, beherrschte tatsächlich jeden Part von jedem ihm bekannten Stück mit einer ungewöhnlichen Genauigkeit. Selbst als wir nach Jahren einige Dinge wiederholten, konnte ich durch Vergleiche mit früheren Tonaufnahmen feststellen, dass er so gut wie nichts verändert hatte. Die Lehr- und Lernmethode entsprach dem traditionellen Vor- und Nachmachen. Die verbale Kommunikation war dabei zunächst ziemlich nebensächlich, nicht nur aus sprachlichen Gründen, sondern vor allem weil für Nyoman Kumpul ein kausaler Ansatz nicht existierte. Fragen nach dem Warum und Wieso erschienen ihm unverständlich. Ich musste mich also auf seine Methode einlassen. Das hatte Vor-, aber auch Nachteile. Selbst als nach einem gegenseitigen Anpassungsprozess kausal orientierte Gespräche möglich waren, wunderte sich Nyoman Kumpul weiterhin häufig über die Andersartigkeit (verglichen mit Balinesen) dessen, was mir beim Lernen schwer fiel und was nicht.
So gelang es eigentlich bis 1986 (also nach weiteren Kurzaufenthalten) nicht, das Problem des Solo-kendang-Spiels[16] zu lösen. Er konnte nur hochvirtuos etwas vormachen, und ich verstand weiterhin gar nichts, weil ich keinen wie auch immer gearteten Zusammenhang erkennen konnte. Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag im Sommer 1986, als ich gerade angekommen war und Nyoman Kumpul sofort – und für seine Verhältnisse relativ aufgeregt – erschien, um mir mitzuteilen, dass er eine neue Idee für das Erlernen des Solo-kendang-Spiels hätte. Offensichtlich hatte ihm das Problem selbst keine Ruhe gelassen.
Der erste Unterricht war eine regelrechte Offenbarung für mich. Er hatte tatsächlich (und wahrscheinlich mit großer Mühe) versucht, einen methodischen Weg vom Einfachen zum Komplexen zu entwickeln, um mir das Wesen dieser Technik zu vermitteln. Der direkte Erfolg befriedigte uns beide ausserordentlich.
Was ist nun an diesem Beispiel so signifikant? Signifikant ist die Tatsache, dass Nyoman Kumpul instinktiv begriffen hatte, dass meine Situation eine andere ist als seine eigene oder die aller anderen Balinesen. Für die Balinesen ist das Erlernen von Gamelan immer ein kontextueller Prozess, während es für mich immer ein non-kontextueller Vorgang war und bis heute geblieben ist. Für non-kontextuelle Lernprozesse bedarf es aber einer anderen methodischen Verfahrensweise, die das Kontextuelle ‚von Null beginnend‘ in kürzerem Zeitraum nachvollzieht.
Weiterhin signifikant ist, dass meine Erfahrungen der letzten Jahre in Indonesien im Erziehungsbereich unter anderem auf diesen zentralen Punkt konzentrierbar sind. Mit anderen Worten, eines der Kernprobleme indonesischer Erziehung, besonders an den allgemeinbildenden Schulen ist genau diese Frage der Methodik im Spannungsfeld zwischen traditionell kontextuellem Lernen und aktuellem non-kontextuellem Lernen an den Schulen. Zumindest heute ist mir klar, dass diese Problematik keineswegs mit Unfähigkeit zusammenhängt, sondern ein generelles kulturelles Problem darstellt, im Prozess des Wandels von einer agrarisch-orientierten adat-Kultur[17], hin zu einer, in vielen Bereichen international orientierten, modernen Gesellschaft.
Alle meine Erfahrungen mit I Nyoman Kumpul als Gamelanlehrer und I Gusti Gêdé Raka als gleichsam spirituell-kulturellem Lehrer sind für mich von unschätzbarer Bedeutung[18], und ich möchte an dieser Stelle Beiden und allen anderen Beteiligten recht herzlich für all ihre Mühe danken. Hoffenlich ist es auch mir gelungen, ihnen einiges Interessante zu vermitteln.
Meine Beziehung zu Indonesien beziehungsweise zu Indonesiern war von 1978 bis 1988 auf Bali beschränkt. Das sollte sich in der Folge drastisch ändern. Letztlich wiederum ein Zufall[19] brachte es mit sich, dass ich 1988 mit Unterstützung des Goethe-Instituts eine Tournee durch Südostasien mit Schwerpunkt Indonesien machen konnte, um meine eigene Musik vorzustellen. Dabei wurde ich von einem sechsköpfigen Ensemble unterstützt, das damals aus jungen engagierten Musikern bestand, die ich mir an meiner Hochschule gesucht hatte[20]. Die Tournee, die im Vorfeld aus verschiedenen Gründen fast gescheitert wäre, war wider Erwarten aller Beteiligter ein großer Erfolg – immerhin handelte es sich um zeitgenössische Musik[21]. Wichtig war zudem, dass ich erstmals Kontakt mit Kunstinstituten in Indonesien bekam, wie zum Beispiel ISI-Yogyakarta, oder ASTI-Bandung[22], aber auch zu einigen führenden zeitgenössischen Künstlern. Vor allem mit dem führenden Komponisten Indonesiens, Slamet A. Sjukur, entwickelte sich eine intensive Freundschaft, und später kamen noch die Bandunger Komponisten Dody Satya Ekagustdiman und Harry Roesli, aus Solo Dr. Rahayu Supanggah, I Wayan Sadra und Rustopo, aus Denpasar Nyoman Astita, Dr. Wayan Dibia, Prof. Dr. I Madé Bandem und Nyoman Windha, aus Jakarta Tony Prabowo und Arjuna, aus Medan Ben Pasaribu, aus Yogyakarta Sapto Rahardjo und Djaduk Ferianto hinzu, um nur einige zu nennen.[23]
Auch zu anderen Künstlern bekam ich Kontakt (wenn auch erst in den 1990er Jahren), wie zum Beispiel zu der Choreographin Juju Masunah aus Bandung, dem Maler und Essayisten Herry Dim aus Bandung, dem Schriftsteller Goenawan Mohamad und neben vielen anderen besonders zu dem Klarinettisten, Musikologen und Komponisten Suka Hardjana aus Jakarta[24].
Dies war ein ganz neues Umfeld, eine ganz andere Szene, bei ebenso ganz anderen Problemstellungen. Bali erlebte ich im weitesten Sinne als ‚traditionelle‘ wiewohl sich dynamisch entwickelnde Kultur mit all ihren reichhaltigen Facetten, an der, trotz vieler negativer Aspekte des Tourismus, die moderne Entwicklung mehr oder minder vorbei zu gehen schien.[25] Nun aber kam ich in Kontakt mit dem modernen Indonesien, mit dem Staatsgebilde als Ganzem, seiner Rolle im internationalen Wechselspiel der Kräfte, mit Politik und überhaupt dem Problem der kulturellen Vielfalt.
Das nahezu alle Lebensbereiche durchdringende Spannungsfeld zwischen traditioneller Kultur, der Wandel vom sogenannten Entwicklungsland zu einem modernen gleichwertigen Staat im internationalen Vergleich sollten der Hintergrund meines neuen Verhältnisses zu Indonesien werden.
Diese Erfahrungen waren für mich relativ neu, denn auch in Deutschland – das muss ich an dieser Stelle eingestehen – gehörte ich bis zu dieser Zeit eher zu den politisch ‚gleichgültigen‘ Menschen. Neben meiner (seit 1986 hauptamtlichen) Tätigkeit als Lehrer an der Musikhoch-schule Freiburg, als Komponist und als Leiter eines balinesischen Gamelan-Ensembles, nahm seit 1988 die kulturpolitische Beschäftigung mit Indonesien im weitesten Sinne einen zentralen Stellenwert in meiner Arbeit ein.
Unterstützt wurde dies durch die 1989 beginnenden (durch die Tournee ausgelösten) Folgeaktivitäten. Ich bekam zahlreiche Einladungen für längere Workshops in Surabaya, an der Musikakademie ISI-Yogyakarta; aber vor allem in Bandung schien sich eine interessante Arbeit anzubahnen. Auslöser war der Leiter des dortigen Goethe-Instituts, Dr. Peter Sternagel[26], der, obwohl 1988 gerade neu angekommen, sich mit Vehemenz in das lokale Kulturleben stürzte (und bis heute eigentlich aus der dortigen Szene nicht wegzudenken ist). Dr. Sternagel iniziierte eine Zusammenarbeit mit der Kunstakademie ASTI (damals unter der Leitung von Doktorandus (Drs.). Saini KM, dem jetzigen Dirjen Kesenian[27] in Jakarta), die erstmals vom DAAD unterstützt wurde. Auch 1990 arbeitete ich nochmals an ASTI-Bandung.
Beide jeweils zweimonatigen Projekte waren für mich wichtige Erfahrungen, und hoffentlich auch für die Indonesier. Bei beiden Projekten wurden mit jeweils zwei Konzerten die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit vorgeführt. Mir wurde aber neben allem Positiven auch klar, dass eine Zusammenarbeit – wenn man sie ernst nimmt – nicht so einfach ist, wie man glaubt. Die Gründe hierfür sind vielfältig, lassen sich aber auf einen zentralen Widerspruch (neben einigen üblichen administrativen Hemmnissen) zurückführen. Verglichen mit der immensen Vielfalt einheimischer Kunstformen ist die Anzahl der Kunstakademien, die sich mit einheimischer Kunst beschäftigen, äußerst gering (Denpasar, Yogyakarta, Surakarta, Padang Panjang, Bandung und mit Einschränkung Jakarta). Einerseits erwächst daraus an diesen Akademien ein gewisses Elitebewusstsein, andererseits aber ist man sich über die eigene marginale Rolle, angesichts des sinkenden Interesses der Bevölkerung an den einheimischen Musiktraditionen, bewusst. Man spricht es aber ungern aus. Daraus erwächst unter anderem eine Dichotomie zwischen einerseits gleichgültiger Inaktivität und andererseits dem Willen, doch spürbaren Erfolg zu haben.
Viele pochen deswegen kompromisslos auf die Tradition und lehnen alles andere kategorisch ab. Andere wiederum versuchen sich populistisch anzupassen, sei es durch verstärkte tourismus-bezogene Aktivitäten, aber auch durch Hinwendung zu anderen Musikformen, die mehr den Marktbedürfnissen entsprechen. Nicht umsonst ist Pop Sunda fast schon von nationaler Popularität. Jaipongan und Dangdut wären andere Beispiele, vor allem in West-Java. Leider nur Wenige sind in künstlerischer Hinsicht im eigentlichen Sinne kompromisslos und suchen nach echten neuen Wegen. Diese neuen Wege sind zwar jene, die in Intellektuellenkreisen und im Ausland besonders geschätzt werden, aber leben kann man davon im eigenen Lande nicht. Da man in Indonesien kein subventioniertes Kultursystem wie zum Beispiel in Deutschland kennt[28], sind solche Künstler bei der Suche nach einer eigenen Identität in einer Art Teufelskreis gefangen.
Hinzu kommt, dass gesellschaftliche Akzeptanz in Indonesien einen anderen Stellenwert hat als bei uns. Bei einer von mir 1992 anonym durchgeführten Umfrage unter Musikstudenten (!), ob ein kreativer Künstler sich nach dem Geschmack der Gesellschaft richten oder eher seiner eigenen Mission folgen solle, antworteten etwa 80%, dass man sich nach dem Geschmack der Gesellschaft richten müsse.
Andererseits, diese Idee von Mission scheint mir eher westlicher, um nicht zu sagen europäischer Natur zu sein. Die westliche Idee von der Mission eines Künstlers wurzelt mit gewissen Einschränkungen, die hier nicht diskutiert werden können, im romantischen Bewusstsein des 19. Jahrhunderts. Untrennbar davon ist das individuelle Ausdrucksbedürfnis, sei es in Form romantischer Ideen im eigentlichen Sinne, sei es im Sinne einer zeitkritischen Reflexion oder sogar Vision, wie man es seit Beginn des 20. Jahrhunderts kennt (Stefan Wolpe, Hanns Eisler). Ein Konzept eines damit verbundenen kritischen Komponierens[29], wie es etwa Mauricio Kagel, Helmut Lachenmann und Nikolaus A. Huber in neuerer Zeit formulierten, ist in Indonesien derzeit undenkbar.
Aus dieser Situation heraus erwächst in Indonesien eine ganz andere Problematik, nämlich die der Auseinandersetzung im Lande selbst und mit dem Ausland. Was daran ‚problematisch‘ ist, kann man schon daran ermessen, dass der Ausdruck Auseinandersetzung zu hinterfragen wäre, angesichts eines – zumindest an der Oberfläche – ausgeprägten konsensorientierten Gesellschaftsbewusstseins. Und genau an diesem Punkt entzündeten sich immer wieder alle möglichen Schwierigkeiten im Rahmen meiner seit 1989 in Indonesien andauernden Arbeit im Bereich Komposition, aber auch der allgemeinen Musikerziehung.
Im folgenden möchte ich versuchen, meine ganzen Erfahrungen der letzten Jahre (insbesondere jene der Jahre 1992-1995 im Rahmen meiner Aufbauarbeit an IKIP-Bandung[30], worauf ich später hinsichtlich Erziehungspolitik noch einmal zu sprechen kommen werde) in Form eines kleinen kulturphilosophischen Exkurses darzustellen. Dabei geht es mir zunächst in keiner Weise um eine Wertung (wiewohl manches so aufzufassen wäre), sondern um die Hinterfragung eines essentiellen Sachverhaltes, dessen grundsätzliche Aufarbeitung meines Erachtens zu den wesentlichen Zielsetzungen, sowohl innerhalb Indonesiens aber auch in der Auseinandersetzung mit dem Ausland zählen sollte.
Auseinandersetzung als kommunikative Qualität und letztlich auch Motor für Fortschritt im weitesten Sinne ist eine typische Eigenschaft, die nur aus der europäischen Kulturgeschichte heraus verstehbar ist. Somit waren und sind immer noch wissenschaftlicher Fortschritt, unser westliches Demokratieverständnis und vieles andere untrennbar damit verbunden. Könnte man sich eine Bundestagsdebatte unseres Stils derzeit in Indonesien vorstellen? Ich glaube kaum. Zumindest gäbe es einen signifikanten Aufruhr im ganzen Land. Damit soll keineswegs unseren Umgangsformen kritiklos das Wort geredet werden. Wesentlich ist, dass es eben einen fundamentalen Unterschied gibt.
Auf der anderen Seite werden in Indonesien Fortschritt, Modernität und Technologie ganz oben angeschrieben. Diese Haltung ist durchaus verständlich, aber es kommt zu wenig zur Sprache, wie man diesen Fortschritt erreicht. Ebenso wie eine Komposition von Stockhausen zu einem gewissen Teil nur auf dem Hintergrund der kompositionsgeschichtlichen Entwicklung der mitteleuropäischen Kultur verstanden werden kann, so ist es tendenziell auch mit allen anderen Errungenschaften. Fortschritt zeichnet sich zudem nicht nur durch die Erfindung von Neuem aus, sondern auch durch die kritische Würdigung und Hinterfragung all seiner Implikationen, die, wie wir inzwischen zu Genüge erfahren haben, oft dazu führen, dass man Dinge zurücknehmen muss. Eine positivistische Haltung hinsichtlich jeglicher Art von Neuerungen ist nicht nur fragwürdig, sondern häufig auch gefährlich. Die Kultur der Auseinandersetzung hat deswegen im Westen zu einem – wenn auch nicht immer funktionierenden – Regulativ geführt.
Die Situation in Indonesien aber zeigt ein anderes Bild. Einerseits will man in einem Bruchteil der Zeit (die wir dafür benötigt haben) am ‚Kuchen der Modernität‘ teilhaben, andererseits aber existiert das Regulativ der kausalen Auseinandersetzung noch wenig, beziehungsweise, abgesehen von wenigen Intellektuellen, eigentlich noch gar nicht. Die alte Tradition der Konsenskultur, ein im weitesten Sinne phänomenologisches anstatt kausales Bewusstsein, hierarchische Momente aus der Feudalzeit (oder, salopp gesprochen, das Bapak-Prinzip[31]), die Bedeutung des Repräsentativen etc., all diese Faktoren, deren eigenständige Qualitäten in einem bestimmten traditionellen indonesischen Kontext keinesfalls abgesprochen werden sollen, all diese Faktoren erschweren die kritische Würdigung dessen, was man sich als zukünftiges Ziel selbst gesetzt hat. Mit anderen Worten, die gesamtkulturellen Rahmenbedingungen, unter denen diese Zielsetzungen in ihren Ursprungskulturen (Europa, Amerika...) entstanden sind und dort entsprechend funktionieren, werden zu wenig in Betracht gezogen. Die materiellen Ergebnisse selbst werden dagegen meist kritiklos übernommen und unbesehen sanktioniert.
Ich möchte das an einigen relativ allgemeinen Beispielen begründen. Davon ausgehend, dass unter anderem die Sprache, beziehungsweise der Umgang mit Sprache ein Spiegel der Kultur ist, wurde mir im Laufe der letzten Jahre in der täglichen Arbeit (Unterricht, Seminare...) und vor allem beim Abfassen von Zeitungsartikeln und Büchern in indonesischer Sprache immer mehr deutlich, dass zeitliche Beziehungen nur sehr unpräzis und kausale Zusammenhänge ebenso schwer darzustellen sind. Versuchte ich es trotzdem, so musste ich mir immer wieder vorwerfen lassen, dass mein Indonesisch noch nicht gut sei. Insistierte ich aber dann auf einer genauen Beweisführung, dann stellte sich in vielen Fällen heraus, dass es keineswegs sprachliche (grammatikalische) Fehler waren, die man glaubte, entdeckt zu haben. Das Problem war die Art der Ausdrucksweise selbst.
So ist es zum Beispiel nicht verwunderlich, dass selbst ein in Amerika ausgebildeter indonesischer Komponist und Musikologe behauptete, dass für ihn eine Komposition von Beethoven und Stockhausen letztlich gleichbedeutend wären (und dies nicht aus möglichen populistischen Gründen). Er könne also problemlos im Beethoven’schen oder Stockhausen’schen Stil komponieren, und beides wäre als zeitgenössische Musik gleich gültig. Die historische Dimension, der implizite Anachronismus, war für ihn und viele andere nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar.
Eine Hausarbeit eines Dozenten für Ethnomusikologie an ISI-Yogyakarta, der derzeit an UGM[32] ein Aufbaustudium (S2) Seni Pertunjukan (Darstellende Künste) absolviert, hatte Die Ästhetik der balinesischen Musik zum Thema. Die Arbeit beginnt mit einer sehr groben Darstellung der europäischen Geschichte der Ästhetik, von Baumgarten über Winckelmann bis zu Kant (also im weitesten Sinne Theoretiker des 18. Jahrhunderts). Diese Einführung endet bezeichnenderweise mit einem Exkurs zu Augustinus und Thomas von Aquin, deren Grundsätze dann zum Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung herangezogen werden[33].
Abgesehen von der seltsamen Tatsache, dass man europäische Theoretiker als Ausgangspunkt einer Betrachtung balinesischer Musik heranzieht, abgesehen davon, dass nur statements zitiert werden, fatal ist vor allem der Umgang mit Zeit oder mit Zeitlichkeit.
Und damit bin ich beim zweiten Punkt, der Kausalität, was eng mit diesem Zeitverständnis zusammenhängt. Kausalität impliziert eine lineares Zeitverständnis. Dies aber ist in der indonesischen Kultur nur bedingt vorhanden. Geschichte wird selten als eine kausale (inklusive aller Brüche) lineare Abfolge von Ereignissen verstanden, sondern gleichsam als eine Ganzheit von Ereignissen.[34]
Infolgedessen neigt die indonesische Sprache dazu, Aussagen – der Ausdruck statements scheint mir treffender – zu bevorzugen, anstatt kausale Bezüge oder Argumentationsketten aufzubauen. Besonders deutlich wird dies im Bereich der sogenannten penelitian (Forschungen) an Universitäten[35], wo so genannte penelitian kuantitatif, also meist statistische Vergleiche mit komplizierten Formeln, überwiegen und die äussere Form der Arbeit wichtiger ist als der meist nichtssagende Inhalt. Trotz der Tatsache, dass diese Praxis auch schon mehrmals öffentlich von Indonesiern kritisiert worden ist, hat sich daran bisher prinzipiell nichts geändert.
Eine hervorragende musikanalytische Arbeit (die nach langer gemeinsamer Arbeit und Überarbeitungen sehr kausal argumentativ geprägt war, beziehungsweise auch gar nicht anders geschrieben werden konnte) einer von mir betreuten Dozentin wurde von der offiziellen Bewertungsinstanz (lembaga penelitian) zurückgewiesen mit der Bemerkung, sie sei nicht wissenschaftlich! Ähnliche Erfahrungen hatte ich bei zahlreichen Seminarveranstaltungen, insbesondere bei den sich an Vorträge anschliessenden Diskussionen. Tatsächlich findet in den seltensten Fällen eine wirkliche Diskussion statt, sondern es bleibt beim Austausch von – statements!
Von diesem hier nur sehr grob skizzierten Hintergrund aus betrachtet, verwundert es nicht, wenn auch im Kunstbereich eine Auseinandersetzung selten möglich ist, und dies hat wiederum Auswirkungen auf die Kunst selbst. Solange sich Kunstproduktion im jeweils traditionellen, gleichsam funktionalen Raum abspielte, stand diese Problematik gar nicht zur Debatte. Heute aber ist die Situation anders, und man stellt zudem einen anderen Anspruch, eben jenen des individuellen Ausdrucks. Dies impliziert aber von selbst eine laufende wechselseitige Auseinandersetzung, wenn man nicht in postmoderne Gleichgültigkeit verfallen will[36]. Da diese Auseinandersetzung aber noch kaum stattfindet (und wenn sie stattfindet, wird fast jede Kritik als persönlicher Angriff empfunden und steht somit wieder im Widerspruch zum Konsensbewusstsein), ist es tatsächlich naheliegend, nur quantitative Kriterien – gesellschaftliche Akzeptanz – in den Vordergrund zu stellen.
Diese Erfahrungen prägten meine Arbeit der letzten Jahre in Indonesien, und ich habe mich nicht nur einmal selbst gefragt, ob meine Beurteilung richtig ist, ob ich mich nicht damit wiederum einer Einmischung schuldig mache. Ich bin allerdings immer zu dem Ergebnis gekommen, dass mein Insistieren keine Einmischung im negativen Sinne darstellt, sondern ich verstehe mich in dieser Hinsicht als eine Art Katalysator, um die vorhandene Potenz dorthin zu bringen, wo sie auch wirksam sein kann. Im übrigen bin ich von der gegenseitigen Bedingtheit von Individualismus und Auseinandersetzungsfähigkeit zutiefst überzeugt und zwar unabhängig von der jeweiligen Kultur. Die kulturellen Unterschiede beziehen sich meines Erachtens auf die Substanz, mit der man sich auseinandersetzt und weniger auf das Konzept der Auseinandersetzung selbst.
Der indonesische Musikologe Suka Hardjana bemerkte kürzlich in einem Vortrag:
Eines der Hauptprobleme unserer allgemeinen Musikentwicklung und der Bedeutung der Gamelanmusik für die junge Generation in Indonesien wurzelt in einem Kulturkonflikt, der unsere Jugend direkt berührt. Von Geburt an wird ein indonesisches Kind mit einer dreidimensionalen Kultur konfrontiert.
Erstens erfährt es die lokale Kultur, die ihm am nächsten steht. Zweitens erlebt es die nationale Kulturpolitik mit ihren übergeordneten Zielsetzungen, und drittens erfährt es die internationalen Einflüsse, wie sie sich in der Auseinandersetzung des modernen Indonesiers mit der gesamten Welt manifestieren […]. So entsteht ein Konstrukt oder ein Netzwerk von Einflüssen mit hoher Komplexität voller kultureller Reibeflächen.[37]
Suka Hardjana hat die Situation sicher treffend beschrieben. Was aber sind die Konsequenzen? Auch darin bin ich mir mit Suka Hardjana einig. Der Ausweg aus diesem Dilemma liegt in der offenen und kritischen Auseinandersetzung mit dieser Situation. Findet sie nicht statt, dann kann dies ungeahnte Folgen für das individuelle Selbstverständnis des Einzelnen haben. Musik ist in diesem Fall nur eine einzige Ebene; diese Dreidimensionalität lässt sich jedoch problemlos auf andere übertragen.
Untrennbar mit diesem Komplex verbunden war und ist meine Arbeit der letzten drei Jahre im Bereich Kunsterziehung in Indonesien[38]. Ich hatte mich bis 1990 nur wenig mit der Kunsterziehung auseinandergesetzt, weil es mir selbstverständlich erschien, dass solch eine reiche Kultur sich nicht nur via Kunstakademien weiterentwickelt, sondern dass auch die allgemeinbildenden Schulen die eigene Musikkultur als Hauptthema behandeln. Es stellte sich aber das genaue Gegenteil heraus. Die Musikerziehung an allgemeinbildenden Schulen bezieht sich nahezu ausschließlich auf westliche Musiktheorie (oder zumindest auf das, was man dafür hält), beziehungsweise auf das Auswendiglernen und Absingen einiger nationaler Pflichtlieder (Nationalhymne; Lieder, die im Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitskampf entstanden sind), die allesamt ebenso im westlichen Idiom geschrieben wurden. Über die funktionale Bedeutung dieser Lieder für das nationale Selbstverständnis muss nicht diskutiert werden, und es würde auch zu weit führen, darzulegen, weswegen diese Lieder im westlichen Idiom komponiert wurden.
Zu fragen ist dagegen, wieso die gesamte Schulausbildung die einheimische Musikkultur gleichsam negiert[39]. Als ich 1992 (nach Durchführung eines einmonatigen Pilotprojekts im Jahre 1991) als DAAD-Langzeitdozent meine Arbeit an IKIP-Bandung begann, sollte ein nationales Seminar mit IKIP-Dozenten das Projekt gleichsam eröffnen. Ich nutzte diese Gelegenheit, um mir ein Bild über die gesamte Ausbildungssituation an den IKIPs und infolgedessen an den Schulen zu machen. Schlagwortartig lässt sich das Ergebnis wie folgt zusammenfassen:
1. Aufgrund der kulturellen Pluralität war man der Auffassung, dass keine der Einzelmusikkulturen Indonesiens zu einer sogenannten national verbindlichen Musikerziehung herangezogen werden kann, ohne dass es zu sozialen Spannungen käme. Deswegen habe man westliche Musik als für alle gleich(-fremd!) zur Basis der nationalen Musikausbildung erhoben.
2. Westliche Musik sei gleichsam die internationale Musik, und im Bestreben aus dem Dritte-Welt-Status herauszukommen, müsse sich eben auch Indonesien an diesen ‚internationalen Werten‘ orientieren.
3. Westliche Musiksprache habe auch in Indonesien traditionellerweise ihren kulturellen Stellenwert, wie bestimmte Formen der Musik der Batak beweisen. In diesem Zusammenhang war es bezeichnend, dass die meisten Musikabteilungen der IKIP von Angehörigen der Ethnie der Batak geleitet werden.
4. Sowohl die Nationalhymne als auch die sogenannten nationalen Lieder (lagu perjuangan) benutzen die westliche Musiksprache und deswegen...! Dabei ist interessant zu wissen, dass die meisten der Komponisten[40] dieser Lieder von jener Ethnie der Batak abstammen und von christlichem Glaubensbekenntnis sind.
In diesem Zusammenhang ist vielleicht auch folgendes, von mir schon mehrfach verwendetes Zitat nicht uninteressant:
Eine indonesische Musikkultur, die nach der indonesischen Kulturmusik entstehen sollte, ist letztlich noch nicht vorhanden […]. Die indonesische Kulturmusik, die über den ganzen Archipel verteilt aufzufinden ist, entspricht den sogenannten traditionellen Künsten, gekennzeichnet durch eine relativ geringe kreative Produktivität, besonders geprägt durch Improvisation, im allgemeinen ziemlich amateurhaft […]. All dies bildet eine Art ethnisches Mosaik aus, das auf Schamanismus basiert beziehungsweise auf mytischen Denkweisen […].
Es scheint notwendig ein allgemeines Bewußtsein zu propagieren oder zu iniziieren, dass traditionelle/ethnische Musik dem touristischen Bereich vorbehalten bleiben sollte, während die klassische westliche Musik herangezogen werden müsste, um unser Volk auf eine bessere Art und Weise dazu zu erziehen, im globalen Wettbewerb mitwirken zu können.[41]
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich spontan eine umfassende und ziemlich scharfe Entgegnung schrieb, die die nationale Tageszeitung KOMPAS zwei Wochen später nicht als Leserbrief sondern als Artikel an der gleichen Stelle veröffentlichte. Der Titel lautete: Hinführung zu einem ‚Indonesischen Zeitalter‘ durch Negierung der indonesischen Kultur?[42] Dass dieser Artikel ein flammende Plädoyer für einheimische Musikkulturen aller Art war, versteht sich von selbst.
Tatsächlich verhalf mir diese Auseinandersetzung zu einer gewissen ‚Popularität‘, sowohl positiv als auch verständlicherweise negativ, und beide Reaktionen halten bis heute an[43]. Der Autor, FX Suhardjo Parto, war nun nicht irgendwer, sondern Dozent an der Kunstakademie ISI-Yogyakarta. So kann man sich vielleicht vorstellen, wo das Problem seine Wurzeln hat, und bei aller grundsätzlichen Wertschätzung: die Unterstellung des Schamanismus bei allen indonesischen Musikkulturen verweist eindeutig auf etwas anderes als wirkliche Sachargumente (siehe vierter Punkt oben).
Die anderen Punkte fasst eigentlich ein Indonesier am besten zusammen. Suka Hardjana schreibt in einem kürzlich erschienenen Artikel:
Als Ergebnis der Expansionsbestrebungen der westlichen Kultur im Kolonialzeitalter orientieren sich die Prinzipien der Modernisierungsbestrebungen Indonesiens an den vermeintlich allgemeingültigen Maßstäben europäischer Musikkultur und in der Folge auch an jenen Amerikas. Der Ausdruck „vermeintlich allgemeingültige Maßstäbe“ muß in diesem Zusammenhang besonders betont [hinterfragt] werden, denn das was seit Beginn nach Indonesien kam, entsprach in keiner Weise der eigentlichen europäischen Musikkultur, sondern war ein kleiner oberflächlicher Ausschnitt, der in Europa selbst als Randerscheinung inmitten der gesamten komplexen Musikkultur gesehen wird (so besteht vergleichsweise ein fundamentaler Unterschied zum Einfluß der – in der indischen Literatur zentralen – Epen Ramayana und Mahabharata in Indonesien, die in der Folge alle Künste wie Literatur, Theater, Tanz, bildende Kunst und auch die Musik maßgeblich beeinflußten, zumindest ein einigen Gegenden unseres Landes)[44].
Dem ist von meiner Seite nichts hinzuzufügen. Bis heute habe ich selbst allerdings nie verstanden, wieso es bei einem Staatsprinzip ‚Einheit in der Vielfalt‘ (Bhinneka Tunggal Ika) nicht möglich sein kann, auch die Vielfalt der Musikkulturen insgesamt als Einheit zu sehen (siehe Punkt 1). Das Zitat von Suka Hardjana beweist zudem, dass auch einige Indonesier kritisch über die desolate Situation der Musikausbildung nachdenken. Leider haben diese Personen wenig politischen Einfluss. Erst seit letztem Jahr scheint sich einiges zu ändern. Zumindest nimmt die Zahl der offiziellen Verlautbarungen über die Reintegration der einheimischen Musik in den Lehrbetrieb an den allgemeinbildenden Schulen deutlich zu. Das Festival Gamelan Internasional II - Prambanan im Dezember 1995 stand unter dem Thema Gamelan/ Karawitan dan Pendidikan Anak-Anak (Gamelan/Karawitan[45] und Kindererziehung). Es sollte mich freuen wenn meine Aktivitäten der letzten drei Jahre an IKIP-Bandung, der nationalen Curriculumskommission und auch in der Öffentlichkeit vielleicht ein wenig dazu beigetragen haben, zumindest diese Diskussion in Gang zu bringen. Somit bleibt nur zu hoffen, dass aus verbalen Äußerungen konkrete Taten werden.
Meine eigenen Erfahrungen an IKIP-Bandung (wo man wahrscheinlich wegen der Dominanz der gesamten sundanesischen Musikkultur schon länger über diese Problematik nachdachte, ohne allerdings einen Ausweg zu finden; zudem wird die Musikabteilung ausnahmsweise von Sundanesen geleitet) waren von der Sache her durchweg positiv. Verglichen mit Erfahrungen vieler Kolleginnen und Kollegen war die Zusammenarbeit, und vor allem die Unterstützung durch den ganzen administrativen Apparat sehr erfreulich, um nicht zu sagen ungewöhnlich. Bei allen Schwierigkeiten, die es gab, immer verspürte man die Bereitschaft, sich gegenseitig verstehen und aufeinander eingehen zu wollen.
Neben meinem zentralen Arbeitsziel, der Einrichtung und praktischen Umsetzung eines neuen Curriculums S1-Musikerziehung[46], zeigte sich auch während der letzten drei Jahre, dass unabhängig von der Materie, die Lehr- und Lernmethodik das zentrale Problem darstellt. Nur sehr langsam gelang es mir, alle Beteiligten von der Notwendigkeit des Diskurses zu überzeugen. Ebenfalls nur sehr langsam gelang es mir durch alltägliches Verhalten zu beweisen, dass ich nicht der ‚grosse Guru‘ bin, sondern ein Partner, sowohl gegenüber den Dozenten und Dozentinnen als auch den Studenten und Studentinnen.
Und somit schließt sich der Kreis meiner Indonesienerfahrungen, denn ich bin wieder bei der Frage des kontextuellen bzw. non-kontextuellen Lernens angelangt, ein Problemfeld das in seiner Umfassendheit nicht zu unterschätzen ist.
Eine Zukunftsprognose scheint sich deswegen fast zu erübrigen. Ich halte Indonesien tatsächlich von seiner Potenz her für eines der interessantesten Länder der Erde. Ich kann nur hoffen, dass sich diese Potenz und dieser Reichtum auch adäquat entwickeln, und sich nicht durch falsches Fortschrittsdenken und Imitation von Äußerlichkeiten anderer Kulturen (deren innere und historisch gewachsene Bedingungen man überhaupt nicht kennt) gleichsam selbst zerstören. Man muss den Mut zur kritischen Auseinandersetzung auf allen Ebenen haben, sowohl horizontal – mit anderen Kulturen und Menschen aber auch innerhalb des eigenen Landes – als auch vertikal zwischen den Ebenen verschiedener (und teilweise sicher notwendiger) Hierarchien. Kritische Auseinandersetzung ist nicht bedrohend sondern letztlich lebensnotwendig, davon bin ich ohne Einschränkung überzeugt.
Coda: Schließlich bleibt die Frage offen, warum ich als Titel ‚Zwischen zwei Stühlen‘ gewählt habe. Ich habe diesen Titel gewählt, weil ich mich, obwohl sicher weiterhin ein Mitteleuropäer bleibend, der indonesischen Kultur ebenso hingezogen und (inzwischen) verantwortlich gegenüber empfinde, wie hinsichtlich meiner eigenen. Das ist oft sehr spannend, führt aber manchmal auch an die eigenen Grenzen, wenn man alles ernst nimmt – zugegeben, vielleicht manchmal zu ernst. Aber besser so als umgekehrt.
[1] Dieser autobiographische Text entstand für eine Publikation mit dem amüsanten Titel Nelkenduft in Wolkenkratzern – Deutsche Experten über Indonesien, hrsg. von Berthold Damshäuser & Ulrike Muntenbeck-Tullney, Jakarta 1996. Der Text wurde im Vergleich zum Original minimal ediert. Ausserdem werden manche indonesische Ausdrücke erläutert, die in der Regel nur Fachleuten vertraut sind. Diese Version steht im 2021 veröffentlichten Sammelband: Dieter Mack, "Zwischen den Kulturen", Schriften und Vorträge zur Musik 1983-2021, Hrsg.- von Oliver Korte, Schriften der Musikhochschule Lübeck, Band 4, Olms Verlag.
[2] Die Tatsache, dass sich die damalige Klasse aus Studierenden sehr verschiedener Nationen (Amerika, Schweden, Norwegen, Kanada, Korea, Italien, Japan) zusammensetzte, spielte interessanterweise, was diesen Hintergrund anging, eine sekundäre Rolle; deswegen vielleicht auch Ferneyhoughs Motivation, solch ein Seminar durchzuführen.
[3] Ich möchte daraus keinen Vorwurf ableiten. Die Tatsache aber, dass es mir bis heute nicht sehr viel anders ergeht, ist zumindest ein Indiz für die damals konstatierte eurozentristische Haltung, besonders an deutschen Kunsthochschulen. Dahinter steht keineswegs eine böswillige Absicht, geschweige ein wie auch immer gearteter Rassismus, sondern meines Erachtens ausschließlich die emminente Bedeutung des Historizismus und der künstlerischen Verantwortung der eigenen Geschichte gegenüber.
[4] Anmerkung beim Edieren 2021: Das Gamelan Semar Pagulingan ist eigentlich ein altes höfisches Siebenton-Orchester, wovon es auf Bali nur noch zwei historische gibt. Etwa seit den 1980er Jahren begann man mit Nachbauten, und gerade in den letzten Jahren erlebte die siebentönige Skala in mehrfacher Hinsicht eine erstaunliche Wiederbelebung bei jungen Komponisten/innen. Das berühmte Orchester des Dorfs Teges, das ich damals hörte, hatte allerdings eine fünftönige Variante in der sogenannten tembung-Stimmung. Instrumentarium und Repertoire entsprachen aber zu großen Teilen dem Semar Pagulingan.
[5] Dr. Schaareman lebt heute auf Bali (inzwischen in Jakarta; Anmerkung des Autors beim Edieren 2021). Die bis heute trotz (oder gerade wegen) zahlreicher Höhen und Tiefen ungebrochene enge Freundschaft mit diesem ‚halben Balinesen‘ hat sicher ebenfalls zu meiner Neuorientierung beigetragen.
[6] Siehe dazu: John Coast, Dancers of Bali, London 1952; Urs Ramseier, Kunst und Kultur auf Bali, Bern 1979.
[7] Zusammenarbeit mit dem Rock- oder Eventmusiker Eberhard Schoener, woraus damals das auch in Indonesien bekannte Album Bali Agung (1976) hervorging.
[8] Anmerkung beim Edieren 2021: Damals war es keineswegs so, dass alle Dorfbewohner überhaupt Indonesisch konnten. Balinesisch war die lingua franca; etwa 70% der männlichen und ca. 30% der weiblichen Bewohner sprachen Indonesisch, Englisch überhaupt niemand. Ich war also gezwungen, sowohl Indonesisch als auch Balinesisch zu lernen.
[9] Anmerkung beim Edieren 2021: Eine Art kleine Hütte, zu fast allen Seiten offen, mit Abmessungen von ca. 3,5 x 3,5 Meter.
[10]Anmerkung beim Edieren 2021: Ein pembantu ist ein ‚Helfer‘, der einem das Zimmer reinigt, das Essen bringt, notfalls die Wäsche reinigt etc. ‚Sklave‘ wäre zu weit gehend. Aber noch der kleinste Haushalt, ja selbst Studenten/innen hatten pembantu. Als ich 1992-1995 für drei Jahre als DAAD-Langzeitdozent in Bandung arbeitete, erinnere ich mich an eine wirklich ernste Diskussion mit meinem Dekan, der mir zwei pembantu besorgen wollte, ich dies jedoch ablehnte. Ich könne selbst sowohl putzen als auch kochen. Daraufhin warf er mir ernsthaft vor, armen Menschen die Möglichkeit des Geldverdienens zu verweigern. Mir war klar, dass es in dieser Kultur normal ist, sich eine/n pembantu zu leisten, sobald man finanziell dazu in der Lage ist (sonst wäre man wohl selber pembantu). Aber es war für mich unvorstellbar, mit Fremden in meiner Wohnung zu leben. Und dabei blieb es auch. Erst viel später gestattete ich es einem meiner Studenten, gegen Entgeld mir einmal die Woche ein wenig zu helfen, Großputz zu machen.
[11] In Deutschland hätte man mich wahrscheinlich eher gleich in eine Heilanstalt eingewiesen.
[12] Wobei er offensichtlich stillschweigend voraussetzte, dass jeder Europäer automatisch einer christlichen Glaubensgemeinschaft angehört, was in meinem Fall nicht stimmte, ich aber nicht zur Diskussion stellen wollte (orang = Mensch).
[13] I Gusti Gêdé Raka wurde angeblich 1916 in Saba geboren und starb im Jahre 2000.
[14] Siehe dazu: Dieter Mack, The Gamelan Gong Kebyar of Pinda, in: Danker Schaareman (editor), Balinese Music in Context, Forum Ethnomusicologicum IV, Basler Beiträge zur Ethnomusikologie, Zürich, 1992.
[15] Nyoman Kumpul verstarb 2018 unter reichlich unwürdigen Bedingungen (falsche Behandlung durch die lokalen Ärzte) im Alter von ca. 75 Jahren. Erfreulicherweise wird sein Erbe von seinem Sohn Nyoman Kater erfolgreich weitergeführt.
[16] Kendang ist die balinesische Doppelfell-Trommel, innen sanduhr-artig ausgehölt. Je nach Stil gibt es verschiedene Größen, und normalerweise werden sie paarig im üblichen interlocking-Stil gespielt. Allerdings gibt es Ausnahmen, und um dieses Thema ging es damals.
[17] Adat ist das allumfassende Gewohnheitsrecht auf Bali (nicht aufgeschrieben).
[18] Die Arbeitsweise mit meinem 1982 in Freiburg gegründeten Gamelanensemble basierte deswegen auch immer auf derselben Methode, wie ich sie auf Bali erfahren hatte. Ich glaube, es war bei allen ‚Niederungen‘, die immer wieder auftraten und auftreten, der bessere Weg als zum Beispiel Notation zu benutzen. Die Erfahrungen mit Gamelanpraxis in Deutschland ergäbe Stoff für einen eigenen Artikel. Sicher ist zumindest der hohe pädagogische Wert, den die Praxis des balinesischen Gamelan auch in Deutschland beinhaltet. Es ist deswegen bedauernswert, dass es weiterhin nahezu unmöglich ist, solche Erfahrungsmöglichkeiten in den Ausbildungskanon an deutschen Kunsthochschulen mit einzubeziehen. Anmerkung beim Edieren 2021: Die 18 Jahre an der Musikhochschule Lübeck waren diesbezüglich anders. Ich erhielt einen eigenen Raum und Gamelan war als Ensemblepraxis offiziell anerkannt. Ich kann nur hoffen, dass man in Zukunft neue Wege in diese Richtung entwickeln kann. Leider sind solche Aktivitäten immer sehr an Einzelpersonen gebunden.
[19] Diese Anekdote sollte nicht unerwähnt bleiben: Tatsächlich hatte ich mich schon 1984 auf Anregung einiger Freunde an das Goethe-Institut in Jakarta zwecks Zusammenarbeit gewandt, erhielt aber das übliche freundlich ablehnende Schreiben „...Ihre Arbeit ist sehr interessant, leider sehen wir uns aber derzeit nicht in der Lage...“. Das Schreiben war von der damaligen Programmreferentin Hannelore Lechner gezeichnet. Im Sommer 1985 fand nun in München das erste Gamelanfestival mit europäischen Gruppen statt; und wie der Zufall es will, war jene Frau Lechner gerade auf Heimaturlaub und hörte meine Gruppe spielen und sogar balinesische Tänzer (die drei Monate zu Gast waren) begleiten. Frau Lechner war so beeindruckt, dass sie mir spontan ein Projekt versprach.
[20] Dies war einerseits ungewöhnlich für das Goethe-Institut, das normalerweise nur renommierte Ensembles ins Ausland schickt. Ich konnte aber andererseits deutlich machen, dass die speziellen Bedingungen meiner Musik (gleichsam ‚musikalisch thematisierte zwischenmenschliche Kommunikation‘ – sicherlich ein nicht zu unterschätzender Einfluss der Gamelanpraxis) möglicherweise besser durch ein junges Ensemble realisiert werden könne, wenn ich über einen längeren Zeitraum mit diesen Musikern zusammenarbeite. Das hervorragende Ergebnis bestätigte diese Überlegung (später in der Szene bekannte Musiker wie Peter Veale (Oboe), Olaf Tzschoppe-(Schlagzeug) und Sven-Thomas Kiebler (Klavier) waren damals mit beteiligt; der zweite Pianist Hansjörg Koch verstarb leider 2007. Die Flötistin Frauke Schnabel und der Klarinettist Erich Wagner sind beide in der Berliner Szene bis heute aktiv).
[21] Ich sehe dafür vor allem zwei Gründe: Erstens hatte ich mit dem Ensemble das Programm so vorbereitet, dass alle eigentlich ohne Noten hätten spielen können. Sie vermittelten also genau jene Körperlichkeit und Intensität, die mir bei der Gamelan-Musik so wichtig war und ist. Der zweite Grund war die lapidare Tatsache, dass ich die Konzerte und Workshops in Landessprache moderieren konnte.
[22] Heute ISBI-Bandung genannt.
[23] Anmerkung beim Edieren 2021: Leider sind inzwischen Slamet A. Sjukur, Harry Roesli, Sapto Rahardjo, Djaduk Ferianto, Rahayu Supanggah, Ben Pasaribu und Wayan Sadra verstorben.
[24] Anmerkung beim Edieren 2021: Suka Hardjana ist inzwischen ebenfalls verstorben.
[25] Anmerkung beim Edieren 2021: Diese Auffassung teile ich, so formuliert, heute nicht mehr. Äußerlich hat sich Bali ebenso verändert und modernisiert. Kaum eine Kultur Indonesiens hat sich jedoch in künstlerischer Hinsicht so dynamisch weiterentwickelt, wie die Balinesische, vor allem in der Musik. Das Internet ist manchmal besser als in Deutschland. Allerdings hat sich am rituell-zeremoniellen Leben der Balinesen nichts verändert. Es wird weiterhin umfassend praktiziert. Und damit hat sich auch das Lebensbewusstein kaum verändert, es ist nur erweitert worden.
[26] Anmerkung beim Edieren 2021: Dr. Peter Sternagel starb 2020 an den Folgen einer COVID-19 Infektion. Er wird mir ewig in Erinnerung bleiben als genialer lokaler Kulturvermittler, Freund und Fels in der Brandung, wenn es nötig war.
[27] Staatsminister für Kunst im Kultusministerium. Anmerkung beim Edieren 2021: Inzwischen ist er längst im Ruhestand.
[28] Man muss zugeben, dass die Situation der zeitgenössischen Künstler/innen in Deutschland auch nicht viel anders ist.
[29] Diese besonders im deutschen Raum zentrale Auffassung von zeitgenössischem Kompositionsbewusstsein ist schwer in wenigen Sätzen erklärbar. Grundsätzlich geht es dabei um ein ausgeprägtes Bewusstsein hinsichtlich der geschichtlichen Entwicklung von Komposition einerseits, und die differenzierte Würdigung der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse, inklusive der Konnotationen des verwendeten musikalischen Materials andererseits. In diesem Spannungsfeld steht nun der kreative Künstler auf der Suche nach seinem individuellen Beitrag in Form eines von ihm geschaffenen Kunstwerks. Diese Ästhetik ist ohne die dialektische Philosophietradition seit Hegel undenkbar.
[30] Anmerkung beim Edieren 2021: IKIP-Bandung (Institut Keguruan dan Ilmu Pendidikan) heisst heute UPI-Bandung (Universitas Pendidikan Indonesia).
[31] Anmerkung beim Edieren 2021: Bapak ist ein sehr schwer zu übersetzender Begriff. Er ist einerseits eine sehr höfliche Anredeform Personen gegenüber, die man schätzt, verehrt, bzw. die über einem stehen. Zugleich jedoch geht damit eine scheinbare Intimität einher. Vieles hat mit der spezifisch javanischen Form von Autorität zu tun, die beispielsweise durch Präsident Soeharto idealtypisch vertreten wurde, weshalb man ihn mit Bapak anredete.
[32] Universitas Gaja Mada in Yogyakarta.
[33] Tatsächlich geschieht dies nicht, sondern es folgt eine technische Darstellung der Grundprinzipien balinesischer Musik, aber das soll nicht das hier zu behandelnde Problem sein.
[34] Die Bedeutung von Ereignissen drückt sich unter anderem auch in den vielen Feiern, Festen etc. aus, wobei das Ereignis selbst entscheidend ist und weniger seine historische Dimension, den 17. August 1945 (Unabhängigkeitstag) vielleicht einmal ausgenommen.
[35] Universitäten wie UI (Universitas Indonesia) oder UGM (Universitas Gaja Mada) scheinen diesen Punkt überwunden zu haben. Meine Erfahrung bezieht sich primär auf die regelmäßigen und finanziell unterstützten Forschungsprojekte an den Lehrerausbildungsuniversitäten IKIP.
[36] Insofern ist es letztlich nicht einmal verwunderlich, wenn die Kunstdiskussion in Intellektuellenkreisen der letzten Jahre das Thema Postmoderne über Gebühr strapazierte, also weniger wegen einer tatsächlichen geschichtlichen Entwicklungssituation, sondern schlichtweg, weil man einen passenden Aufhänger gefunden hatte, um ein latent empfundenes Problem – das der Auseinandersetzung – elegant zu umgehen.
[37] Suka Hardjana, Permasalahan Komposisi Karawitan Untuk Anak-Anak – Karawitan Versus Musik, Text eines Vortags während des Zweiten Internationalen Gamelan Festivals, Prambanan, Dezember 1995. Übersetzung durch den Autor.
[38] Anmerkung beim Edieren im Jahre 2021: Ich möchte nochmals daran erinnern, dass der Text im Jahre 1996 verfasst wurde.
[39] Oder zumindest bis 1993 negierte. So absurd es klingt, als Mitglied der nationalen Curriculumskommission in Jakarta gelang es mir, das neue Curriculum Kunsterziehung wesentlich zu beeinflussen und die Inhalte mehr auf die einheimische Musiktradition auszurichten. Damit schuf ich mir leider nicht nur Freunde!
[40] Suka Hardjana weigert sich, diesen Personenkreis Komponisten zu nennen. Für ihn sind dies schlichtweg pengarang lagu, was man mit Liedermacher übersetzen könnte, bei uns aber eine etwas andere Bedeutung hat (siehe Wolf Biermann, Konstantin Wecker, Reinhard Mey).
[41] FX Suhardjo Parto, Budaya dan Kultur Indonesia, KOMPAS, 6.12.1992. Der Autor unterscheidet also zwischen Budaya und Kultur, was im Deutschen nicht gut übersetzt werden kann (deswegen der Versuch mit der Wortumstellung). Klar ist, dass Kultur im ästhetisch, qualitativen Sinne gemeint ist, während Budaya im allgemeinen Sinne gebraucht wird. Ich gebe hier noch den Originaltext an: KULTUR musik Indonesia yang timbul sesudah budaya musik Indonesia sebenarnya belum ada […]. Budaya Musik Indonesia (BMI) yang terdapat di seluruh Nusantara adalah kesenian musik yang mentradisi dengan dinamika produksi penciptaan yang relatif rendah, akrab dengan improvisasi, hampir seluruhnya amatiristik penangannya. […]. Budaya musik Indonesia secara sepintas merupakan mozaik etnik yang berakar pokok shamanism dan landasan pemikiran mitis […]. […] perlu dikembangkan paham bahwa musik tradisional/etnik lebih diprioritaskan untuk turisme, dan musik klasik Barat untuk upaya membantu lebih mencerdaskan bangsa dalam kompetisi global.
[42] Menunju kepada ‚The Age of Indonesia‘ melalui proses meniadakan budaya Indonesia? – Der Ausdruck The Age of Indonesia wurde von Suhardjo Parto gleichsam als Zielsetzung an das Ende seines Artikels gesetzt.
[43] Anmerkung beim Edieren 2021: In diesem Fall gilt es bis zum heutigen Tage.
[44] Suka Hardjana, Catatan Musik Indonesia – Fragmentasi Seni Modern yang Terasing, erschienen in: Kalam No.5, Jurnal Kebudayaan, Jakarta 1995, S. 5-23.
[45] Karawitan ist der indonesische Ausdruck für die Musik von Gamelanorchestern.
[46] Eine Art Bachelor-Studiengang.
Biographie
1954 geboren in Speyer, Rheinland-Pfalz
1975-1980 Studium an der Musikhochschule Freiburg (Komposition bei Klaus Huber und Brian Ferneyhough; Musiktheorie bei Peter Förtig; Klavier bei Rosa Sabater).
1977-1981 Assistent im Experimentalstudio der H. Strobel Stiftung des SWF
1980/81 Stipendiat der HSS.
seit 1980 verschiedene Lehraufträge für Musiktheorie, Improvisation und balines. Musik an den Musikhochschulen Freiburg, Trossingen, Basel und der Uni Freiburg
seit 1986 Professur für Musiktheorie/Gehörbildung an der MuHoSchu Freiburg
seit 1980 Mitglied des Stuttgarter Ensembles ExVoCo (Ltg. Dr. E. Liska)
seit 1978 verschiedene Studienaufenthalte auf Bali, Südindien und Japan, davon 1981/82 ein ganzes Jahr auf Bali.
1982 Gründung eines Ensembles für balines. Musik an der Musikhochschule Freiburg
1982- 1991 weitere Studienaufenthalte auf Bali, Kompositionsworkshops in Bandung, Surabaya Yogyakarta und Jakarta.
1988 Tournee "Portrait Dieter Mack" durch das Goethe-Institut in Südostasien
1991 "Composer in Residence" an der School of Music, Victoria University, Wellington, Neuseeland.
1992-1995 Gastdozentur (über DAAD) an IKIP-Bandung, Indonesien; Mitarbeit in der nationalen Lehrplankommission Indonesiens;
seit 1995 weitere Kurzzeit-Gastdozenturen in Indonesien, vor allem an UPI – Bandung (ex IKIP) Mitwirkung in einem Forschungsprojekt der Ford Foundation bezüglich der Dokumentation traditioneller Musikkulturen in Indonesien und deren didaktischer Aufbereitung für den Musikunterricht.
1997/ 98 Mitverantwortlicher des Projekts CATUR YUGA (kulturelles Zusammenarbeits- projekt zwischen Bali/ Indonesien, Basel/ Schweiz, Freiburg/ Deutschland)
seit 1999 Gastdozent im Aufbaustudiengang „Komposition“ an der Kunstakademie STSI-Surakarta
seit 2003 Professur für Komposition an der Musikhochschule Lübeck
2003-2006 Beratende Mitarbeit beim „Haus der Kulturen der Welt“ in Berlin.
2004 Kompositionskurse in Neuseeland (Goethe Institut) Portraitkonzert während des „Art Summit Indonesia“ in Jakarta Gastdozent bei den Kammermusikkursen von „Jugend Musiziert“ in Weikersheim.
2005 Kurator für das Gamelanfestival im Rahmen des Südostasienfestivals „Räume und Schatten“ am Haus der Kulturen der Welt, Berlin.
2006 Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen
2007 Gastkurse am Zentralkonservatorium Beijing/China, University of Illinois/Urbana Lehrauftrag am musikwiss. Seminar der Uni Heidelberg, Kompositionskurse in Weikersheim
2008 Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg Vizepräsident der Musikhochschule Lübeck Kommissionstätigkeiten beim DAAD, Goethe Institut
2009 Konzertreise mit dem Ensemble Selisih nach Indonesien und Neuseeland (über das GI), Lehrauftrag am musikwiss. Seminar in Hamburg, Vorsitz bei der Musikauswahlkommission des DAAD, Mitglied des Fachgutachterausschusses (seit 1998)
2010 "Composer in Residence" bei Bucheon Symph. Orchestra Lehrtätigkeit an der Seoul National University und Yonsei University; Gastkurse in Singapore, Tokyo und Kuala Lumpur
2011 Konzert - und Vortragstournee nach Manila, Singapore und Kuala Lumpur; Artistic Director Kompositionswettbewerb "Young Composers Southeast Asia"
2011-13 Beratertätigkeit an UPI Bandung, Indonesien
2012/13 Konzerttournee mit des studio Ensemble der musikFabrik in Südostasien
2013 composer-in-residence beim „con Tempo“ Festival Beijing; Mitglied des Planungskommittees „Art Summit Indonesia“
2014 Gastlehrtätigkeiten in Malaysia, Singapore und Bangkok
2015-19 Vizepräsident der Musikhochschule Lübeck für Internationales und Veranstaltungen
2015 Gastlehrtätigkeit am Princess Galyani Vadhana Institute of Music/Bangkok. Und am Zentralkonservatorium in Beijing, Malaysia
UA Schlagzeugkonzert „Wooden“ mit der Deutschen Radiophilharmonie und Brad Lubman, Solist: Johannes Fischer
„Composer in Residence“ beim Brücken-Festival in Rostock
Das Gesamtwerk (außer den Bärenreiter Publikationen) bei Verlag Neue Musik Berlin
2016 Beendigung der Mitwirkung im Musikbeirat des Goethe Instituts
Weitere Gastlehrtätigkeit am PGVIM/Bangkok
Konzert und Masterclass am Music Dpt. University of Fullerton/California
Evaluation S 3 – Studiengang Musikerziehung an UPI Bandung
Jurymitglied beim Kompositionswettbewerb Yogyakata.
2017 Gastlehrtätigkeit an TNUA in Taipeh und Geidai University in Tokyo
Gastlehrtätigkeit am Princess Galyani Vadhana Institute of Music/Bangkok.
„Howard Hanson Visiting Composer Residency”, Eastman School/Rochester
2018 Gastlehrtätigkeit an Geidai/Tokyo, PGVIM/ Bangkok, UiTM Kuala Lumpur;
Uni of Brit. Columbia/Vancouver. Zum Jahresende Beendigung der Tätigkeit als Vizepräsident der MHL Lübeck
2019 Gastlehrtätigkeit am PGVIM-Bangkok, Chiayi University-Taiwan und der
School of Music in Thessaloniki-Greece
2020 1. – 8. März Masterclass und Konzert am Yong Siew Toh Conservatory Singapore
Abegeordneter für International Affairs der Musikhochschule Lübeck
Proben und Workshop mit “Kyai Fatahillah” in Bandung,17. – 29. Februar.
2021 Eintritt in den Ruhestand, Umzug nach Freiburg und Schwanheim
2022 Premiere von “The Time After-Reset” für Gamelan Orchester, Percussion und Fixed Media
bei“Essen NOW” in Essen/Philharmonie. 1. November.
2023 -Forschungsreise nach Bali/Indonesia, Januar-Februar
-Portrait Festival in Heidenheim (mit Ens. Handwerk, Aventure, Selisih, Duo Hahn & Schepansky)
- Masterclass in Trstenice/Tschechien
-Gastprofessur (via DAAD) am Princess Galyani Vadhana Institute of Music, Bangkok, July-October
-Premiere of “Kayumanis” für 2 Klaviere & 2 Percussionists durch Berlinpianopercussion.
- Mitglied der European Academy for Sciences and Arts
2024 - Jurymitglied beim nationalen Wettbewerb LOKOVASIA in Indonesien
- Portraitkonzertzum 70. Geburtstag an der Musikhochschule Freiburg
- UA von "Ombak" durch die MusikFabrik
- Gastdozent am Yong Sieuw Toh Conservatory in Singapore, UA von "Éclat"
2025 - Zwei Portraitkonzerte zum 70. Geburtstag bei Chiffren - Forum für zeitgenöss. Musik Kiel und der
Freien Akademie der Künste in Hamburg
- Jurymitgleid bei LOKOVASIA in Indonesien