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Tunjuk (2006)

für großes Orchester

Friedhelm Döhl zum 70. Geburtstag gewidmet

 

„Tunjuk“ stellte für mich eine besondere Herausforderung dar, geht man davon aus, dass in den meisten meiner bisherigen Werke die Rolle des/der InterpretenIn im gleichsam interaktiven Wechselspiel mit seinen MitspielernInnen thematisiert wurde. Diese Konzeption führte zwangsläufig zu einer eher solistischen Verwendung der Instrumente, die sich allenfalls im Sinne „kleiner Kollektive“ zu gemeinsamen Texturen verbanden. Zudem stand in meinen letzten Werken die Berücksichtigung der persönlichen Spielweise der InterpretenInnen (zumindest derjenigen SpielerInnen, die die Uraufführung bewerkstelligten) im Sinne „persönlicher Redearten“ im Vordergrund.

 

„Tunjuk“ lässt auf Grund der großen Besetzung diese Aspekte in der musikalischen Realisation nur bedingt zu. An wenigen Stellen wird die musikalische Textur soweit reduziert, dass individuelle Nuancen zum Ausdruck kommen können. Andererseits sind die kollektiven Aspekte in solch einem Ensemble derart komplex, dass sie in der bisherigen Form (bezogen auf meine Kammermusik) nur eine begrenzte Rolle spielen können.

Deswegen interessierte mich von Anfang an eine Dimensionierung, die zwar diesem Kerngedanken weiterhin Rechnung trägt, aber zugleich andere Ausdruckselemente in den Vordergrund stellt.

Im Falle von „Tunjuk“ handelt es sich vor allem um zwei Aspekte, erstens musikalische Energien oder Energieverläufe und zweitens so genannte „Klangräume“, die in verschiedenen Dimensionen und Überlagerungen dieses Stück prägen. Dabei ging ich bei den Klangräumen - letztlich an Edgar Varèse anknüpfend - von der Überlegung aus, dass räumliche Dimensionen in der Musik nicht nur durch Lautsprecherpositionen realisiert werden können, sondern – auf Grund bestimmter psychoakustischer Eigenschaften – auch durch eine bestimmte Art und Weise der Klangschichtung und der dynamischen Präsenz.

Grundlage für diese Wirkungen bildet in diesem Stück ein umfangreiches harmonisches Netzwerk, das neben seinen verschiedenen Raumwirkungs-möglichkeiten zugleich als roter Faden dem Werk eine Art Grundgerüst gibt. Zugrunde liegt ein zentraler Akkord mit zwölf Ableitungen. Während der Zentralakkord vor allem zu Beginn und am Ende eine Art Klammer bildet, prägen die zwölf Ableitungen einerseits komprimiert die Einleitung, andererseits jeweils einen weiteren Teil. Dem Werk liegen jedoch nur acht weitere Teile zugrunde, was sich im Verlauf der Komposition als notwendig herausstellte. Jeder Teil ist durch einen bestimmten Grundcharakter geprägt und basiert zudem grundsätzlich auf vier verschiedenen Sub-Ableitungen des jeweiligen Akkords. Der Begriff Ableitung ist so zu verstehen, dass es a) einen engen, b) einen hohen, c) einen gespreizten und d) einen tiefen abgeleiteten Akkord gibt. Die jeweiligen Töne sind ausschließlich jene, die im Ausgangsakkord vorhanden sind. Diese vier Grundformen gewährleisten beispielsweise bereits eine unterschiedliche Raumwirkung bei einer entsprechenden Instrumentation.

Der Aspekt des Energetischen ist etwas schwieriger zu verbalisieren. Die für „Tunjuk“ und andere Werke typische Kompositionsweise der Klangmixtur ist für mich nicht nur ein Verfahren, das Klangstrukturen definiert. Gleichzeitig vermitteln sich dadurch meines Erachtens auch verschiedene Spannungsgrade und Energieformen. Jeder Abschnitt ist somit auch Träger einer bestimmten Intensitäts-(Energie-)-vorstellung, was die praktische Realisation betrifft. Manche Passagen erfordern eine bewusst bis an physische Grenzen reichende Spielintensität der MusikerInnen. Danach folgen häufig so genannte „Leerräume“, die gleichsam das Vorherige balancierend, das genaue Gegenteil in der Ausführung erfordern. Vor allem diese Wirkungen sind Grundlage meiner Strukturierung der jeweiligen musikalischen Übergänge bei einer eher blockartigen (und somit weniger linear dramatisch-entwickelnden) Kompositionsweise.

 

Eine mehr abstrakte und hintergründig wirkende Bedeutung hat die zeitliche Einteilung, die mit einer so genannten kolotomischen Struktur (gliedernde Gong-Strukturen in indonesischer Gamelanmusik) vergleichbar ist. Die Zeitproportionen der ursprünglich geplanten 12 Teile werden in jedem Abschnitt zur gliedernden Grundlage und erscheinen sogar in Form weiterer rhythmischer Diminuierungen mit verschiedenen Texturen. Den harmonischen Ableitungen entspricht somit eine ähnliche pyramidenförmige Ableitungsstruktur des Zeitlichen bzw. Rhythmischen.

Dieser Grundlage sind jedoch im gesamten Verlauf noch zusätzliche Ebenen überlagert, teilweise strukturell geordnet, teilweise frei assoziativ. Für mich steht dies in Entsprechung zur Natur, die man ebenfalls als komplexes räumlich geordnetes Gebilde wahrnimmt, worin jedoch unentwegt Einzelphänomene erscheinen und verschwinden, ohne dass man sie strukturell einordnen könnte.

 

Hier kehren wir zum Titel zurück. „Tunjuk“ ist ein mir sehr vertrautes Dorf in Westbali, wo ich mich während der letzten Jahre mehrmals aufhielt. Neben der Tatsache, dass dort eines der avanciertesten balinesischen Gamelanorchester existiert, hat mich gerade die Polyphonie der alltäglichen Geschehnisse um die Musik herum in diesem Dorf fasziniert. Dadurch wurden einige Kernideen des Werkes katalysatorhaft ausgelöst, ohne jedoch mit der dortigen Musiksprache selbst in irgend einer Verbindung zu stehen.

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